Viele Menschen tragen schwer an Verletzungen oder Ungerechtigkeiten, die ihnen von anderen zugefügt wurden. Zeit alleine heilt diese Wunden in den allermeisten Fällen nicht. Vergebung ist häufig ein Schlüssel dazu.
Was bedeutet Vergebung? Vergebung bedeutet, dass ich jemandem sein Vergehen nicht mehr nachtrage. Welche Gründe könnte es haben, jemandem etwas nachzutragen? Viel leicht erwarte ich von der anderen Person eine Entschuldigung oder eine Wiedergut machung. Doch was, wenn diese ausbleibt? Wer trägt dann die Last, ich oder die andere Person? Ich bin es.
Dies ist nicht nur beschwerlich, sondern es bindet mich auch immer an den Täter. Wenn ich meine Zufriedenheit davon abhängig mache, dass die andere Seite ihr Unrecht einsieht, dann mache ich mich von ihr abhängig. Gleichzeitig wird, wenn ich meinen Fokus immer auf diese Sache richte, meine ganze Neurobiologie davon bestimmt. Das bedeutet einen ständig hohen Stresshormonspiegel, der wiederum viele körperliche Probleme her vorrufen kann. Nicht zuletzt werde ich zum Gefangenen meiner Vergangenheit und kann das Hier und Jetzt nicht auskosten. All dies öffnet Bitterkeit und Resignation Tür und Tor.
Wie viel hoffnungsvoller ist doch der Gedanke, diese Last abzuwerfen, statt sie noch wei ter mit mir herumzutragen. Loslassen – das ist das, was vergeben eigentlich bedeutet.
Wenn ich das tue, bin ich nicht mehr an den Täter gebunden und lasse mich nicht mehr durch die Tat definieren. So wird die Tür zur Heilung aufgestossen.
Wenn vergeben so befreiend ist, warum tun sich dann so viele Leute schwer damit? Vielfach hängt das mit Missverständissen in der Auffassung von Vergebung zusammen.
1. Vergeben bedeutet nicht, etwas Schlechtes gutzuheissen oder zu minimieren.
2.Vergeben ist nicht gleichbedeutend mit Versöhnung. Wenn ich vergebe, bedeutet das nicht, dazu verpflichtet zu sein, wieder eine Beziehung aufnehmen zu müssen.
3. Für die Vergebung muss die andere Person nicht anwesend sein. Ich kann auch meinem toten Grossonkel vergeben.
4. Vergebung bedeutet nicht, dass die andere Seite die Konsequenzen ihrer Tat nicht tragen muss.
Viele mögen sich ja auch schwer tun damit, dass sie nicht wissen, wohin sie ihre Lasten abgeben können. Dieses Wohin ist sicherlich im christlichen Glauben am klarsten benannt. Der Ort des Loslassens ist das Kreuz Jesu, der Wendepunkt der Geschichte. Denn das Kreuz ist nicht nur ein Ort des Loslassens, sondern auch ein Ort des Tausches. Ich lasse Schmerz und Zorn zurück und nehme Liebe und Frieden entgegen. In diesem Sinne ist Vergebung eine therapeutische Technik, die durch eine spirituelle Verankerung massgeblich gefördert wird.
Dennoch ist es wichtig, dass Vergebung aus innerem Antrieb und nicht aus äusserem Druck heraus entsteht. Sonst kann daraus schnell emotionaler oder religiöser Missbrauch werden, etwa wenn es grob vereinfachend heisst: «Du musst nur vergeben, dann wirst du wieder gesund.»
Vergebung braucht einen sorgfältigen Umgang mit sich und den Verletzungen und ist kein Schwammdrüber-Verfahren. Und gerade in Traumasituationen ist es sinnvoll, sich von einem professionell ausgebildeten Coach oder Therapeuten durch diesen Prozess begleiten zu lassen.
Doch was, wenn der umgekehrte Fall eintritt und ich derjenige bin, der jemanden verletzt hat und sich nach Versöhnung ausstreckt? Auch hier reicht es nicht einfach aus, kurz «Sorry» oder «Vergib mir» zu sagen, wenn ich den anderen gerade tief verletzt habe. Sondern es ist wichtig, Verantwortung zu übernehmen für meine Handlung. Das bedeutet, dass ich mich einerseits ehrlich mit der Wirkung meiner Tat auf die andere Person aus einandersetze, andererseits aber auch mit meiner Haltung ihr gegenüber.
Wenn ich auf diese Art bewusst Verantwortung übernehme (siehe unten), dann habe ich von meiner Seite aus die Voraussetzung geschaffen, dass es wieder eine Annäherunggeben kann – wenn die andere Person bereit ist, sich darauf einzulassen.
Klar benennen, was ich getan habe.
Die Gefühle ansprechen, die das bei der anderen Person ausgelöst haben könnte. Nachfragen, ob dem so ist.
Ausdrücken, wie man sich jetzt fühlt, wo man weiss, wie es dem anderen dabei ergangen ist.
Den ernsthaften Vorsatz ausdrücken, was ich tue, um an meinem Verhalten dauerhaft etwas zu ändern.*
Die andere Person um Vergebung bitten. Akzeptieren, wenn sie dafür Zeit braucht.
* Wenn ich immer wieder den gleichen Fehler begehe, werde ich das Vertrauen der anderen Seite dauerhaft verlieren. Hier ist Hilfe von aussen angezeigt, bevor es zu spät ist.