Kaum eine Frage hat einerseits so viel Energie gekostet und andererseits freigesetzt wie die Frage nach unserer Identität, nach dem "Wer bin ich?" Das ist heute nicht anders als vor Jahrtausenden.
Schon in der Bibel liest man von einem monumentalen Unterfangen, das die Menschen in Angriff genommen haben, nämlich dem Bau eines gigantischen Turmes. Was war das Motiv dazu? Es heisst dort: "Lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis in den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen"
Gewisse Parallelen zum Turmbau zu Babel aus der heutigen Zeit sind nicht von der Hand zu weisen, ob es um den Trump Tower im Westen oder den Burj Khalifa im Osten geht. Das Bedürfnis, etwas darzustellen ist und bleibt ein mächtiger Antreiber in unserem Leben.
Ich kenne das selbst gut; als Sohn eines international bekannten Professors für Onkologie hat mich diese Frage auch umhergetrieben. Medizin zu studieren war für mich keine Option, weil ich erstens nicht glaubte, in meines Vaters Fusstapfen treten zu können. Zweitens wollte ich nicht über seinen Namen definiert werden. Ich wollte selbst jemand sein.
Offensichtlich war ich einem Irrtum aufgesessen (und das hat mich später beinah in ein Burnout getrieben): Nämlich dass unsere Leistung unsere Identität definiert.
Gott sei Dank ist das Unsinn. Es ist nicht Leistung oder Erfolg, nicht Status, nicht Besitz, die Dich definieren. Es ist auch nicht Deine Prägung oder das, was wir als Persönlichkeit definieren. Persona kommt aus dem Griechischen und bedeutet Maske. Und es ist tatsächlich so: die Persönlichkeit, das sind die Strategien und Wesenszüge, die wir uns angeeignet haben, weil wir glauben, dass wir damit anerkannt werden und im Leben erfolgreich zurechtkommen.
Das zeigt sich schon bei den Social Media: Wenn mein Motiv die Likes sind, die ich auf einen Facebook Post kriege, dann ist mein Hirn in einem neurobiologischen Ausnahmezustand, während ich auf die Reaktionen warte. Meine Stresshormone gehen hoch und ich verbrauche viel Energie. Wenn dann die Likes kommen, wird das Belohnungszentrum aktiviert, Dopamin und Endorphine werden freigesetzt und das gibt mir den Kick. Und verlangt nach mehr. Ein klassisches Suchtmuster.
Das heisst nicht, dass diese Persönlichkeitsmuster deswegen verwerflich sind - es lohnt sich, sich bewusst damit auseinanderzusetzen. Die entscheidende Frage ist, ob ich etwas tue, um jemand zu sein oder etwas tue aus dem Wissen, wer ich bin.
Wie wäre es, wenn du glaubtest, dass Du Deine Identität nicht selber zurechtbasteln musst? Dass Du kein Zufallsprodukt bist, sondern gewollt und geliebt bist von allem Anfang an? Dass es lediglich Deine Aufgabe ist, diese Identität zu entdecken und entwickeln in einem lebenslangen Prozess, der immer begleitet ist von einem "Daumen hoch"?3 Nach neuesten neurobiologischen Erkenntnissen wären genau dies die Bedingungen, die einem Menschen optimales Wachstum und maximale Entwicklung ermöglichen würden.
Leider ist dies nicht die Realität, die die meisten von uns erlebt haben. Wir werden ständig bewertet. Das fängt mit dem ersten missbiligenden Blick unserer Eltern an, wenn wir etwas getan haben, was nicht ihren Erwartungen entsprach. Das geht weiter in der Schule, wo wir ständig an der Leistung beurteilt werden und durchzieht die ganze Gesellschaft. Besonders deutlich trägt die Werbeindustrie mit ihren künstlichen Photoshop-Idealen dazu bei. Ständig muss man genügen. Das verursacht Stress - und oft gesellt sich noch ein anderes Gefühl dazu: Scham.
Die amerikanische Sozialwissenschaftlerin Brené Brown hat sich der Erforschung der Scham gewidmet und einige sehr interessante Entdeckungen gemacht. Scham ist der Ausdruck der Angst, als nicht genug empfunden zu werden, wenn ich mich zeige, so wie ich wirklich bin. "Scham ist wie ein Teleobjektiv, das auf meine Fehler eingezoomt ist, so dass ich nichts anderes mehr sehe"5 Als Reaktion auf diese Scham lege ich mir eine Maske zu, hinter der ich mich verstecke, etwa die Maske des Perfektionismus. Doch das führt unweigerlich dazu, dass keine echte Beziehung stattfinden kann, weil sich der wahre Teil meiner Selbst dem Anderen entzieht.
Auch dieses Motiv findet sich wieder in der Bibel, bei Adam und Eva, die sich hinter den Feigenblättern versteckten, weil sie sich ihrer Nacktheit geschämt hatten. So haben sie sich Gott entzogen, obwohl er sie gesucht hat.6
Beziehung entsteht erst dort wieder, wo ich zu meiner Unperfektheit stehe, Verantwortung übernehme und mich zeige, wie ich bin. Das bedeutet aber auch, dass ich mich verletzlich mache und das braucht die Art von Mut, die man Authentizität nennt. Brené Brown sagt dazu: "Authentizität ist eine Ansammlung von Entscheidungen, die wir jeden Tag treffen. Die Entscheidung, sich zu zeigen und echt zu sein. Die Entscheidung ehrlich zu sein. Die Entscheidung unser wahres Selbst zu zeigen."
Wenn ich nicht mehr krampfhaft versuche, etwas darzustellen, dann kann das, was ist, sich entfalten und wachsen. Ein Spruch formuliert das salopp: "Ich habe mich endlich selbst gefunden. War gar nicht so schwer - ich stand neben mir."8 Das geschieht natürlich nicht von einem Tag auf den anderen, sondern ist ein Prozess. Schliesslich sind die ganzen Denk- und Handlungsmuster gut eingeschliffen und müssen sukzessive durch neue ersetzt werden.
Dieser Prozess geschieht gerade auch in der Beziehung zu anderen Menschen und insbesondere auch zu Gott, der als Schöpfer am besten weiss, wer wir sind. Der jüdische Philosoph Martin Buber drückte dies so aus: "Der Mensch wird am Du zum ich".
Hier offenbart sich auch der Nutzen einer bezieungsorientierten Spiritualität im Gegensatz zu religiösen Formen, die nur auf die Aufrechterhaltung einer äusserlichen Moralität ausgerichtet sind. Letzteres bringt viel Stress mit sich: immer muss ich genügen und nie bin ich genug.
Natürlich verläuft ein solcher Prozess nicht ohne Fehler und Versagen, doch auch diese definieren nicht unsere Identität. Entscheidend ist, dass wir dranbleiben und es immer wieder versuchen. Im Robin Hood Film von 2010 gab es den prägnanten Satz: "Aufstehen, immer und immer wieder, bis die Lämmer zu Löwen werden." Und in der Tat ist es entscheidend, wie wir mit uns selbst umgehen, wenn wir einen Rückschlag erleiden. Versinken wir in Scham und Selbstmitleid oder verhalten wir uns nach dem Motto: "Aufstehen, Krone richten und weiter gehen"?
Wie können wir uns denn gegenseitig am hilfreichsten in einem solchen Prozess begleiten?
Wenn Eltern einem Kind zuschauen, wie es seine ersten Schritte macht und dabei auf die Nase fällt, sagen sie ja auch nicht "Gib auf, Du bist nicht zum Laufen geboren!" Sondern sie werden sagen "Klasse, die ersten Schritte sind geschafft, weiter so!" Das ist die Art von Wertschätzung und Ermutigung, die hilfreich ist, um uns darin zu begleiten, die zu werden, die wir im Innersten schon sind.